Medizin & Seele

Lebensspiegel – ein würdigender Blick zurück

Spitalseelsorgerin
Daniela Messer
Daniela Messer
„Ich bin dankbar, dass ich das ganze Leben so gut gemeistert habe…“
21. April 2022
„Einen Dickkopf hatte ich schon immer, und manchmal war ich zu hart mit meinen Kindern… Ich bin erleichtert, dass wir heute darüber schmunzeln können und glaube, dass sie mir das verzeihen…“
„Meinen Traumberuf konnte ich als Frau nicht lernen, das war bitter. Im Rückblick bin ich stolz, dass ich trotzdem gerne gearbeitet und manches Gute bewirkt habe…“
Wenn Krankheit und Abhängigkeit von anderen den Alltag bestimmen, fühlen sich Palliativpatient*innen oft reduziert auf die Erfahrung der Schwäche und sie verlieren das Gefühl ihrer persönlichen Würde. Harvey Max Chochinov, kanadischer Palliativmediziner und Psychiater, entwickelte 2005 mit seinem Team aufgrund von Forschungsergebnissen dazu das Modell der Dignity Therapie, zu Deutsch „Würde(-zentrierte) Therapie“ oder „Lebensspiegel“.
Im Kanton Zürich bietet ein Projekt der Andreas Weber Stiftung in Wetzikon die Möglichkeit dieses „Lebensspiegels“ für Palliativpatient*innen an. Ich gehöre zu den Gesprächsbegleiterinnen, die von Projektleiter Tony Styger begleitet und von Peter Muijres, der seit 2016 als Psychologe und medizinischer Anthropologe dazu an der Universität Zürich forscht, geschult wurden.
Wenn eine Person durch ihr Behandlungsteam vom Lebensspiegel erfährt und sich nach einem Erstkontakt vorstellen kann, diesen mit mir im Gespräch zu entwerfen, tauche ich zu einem zweiten Treffen mit dem Aufnahmegerät und den Fragen bei ihr auf, mit denen wir die Spuren der Würde in ihrem Leben ausfindig machen – in erster Linie für sie selbst und falls sie es wünscht als Dokument für ihre Liebsten.
Bei diesem Treffen entfaltet sich im Erzählen über Beziehungen, Erfahrungen und Erinnerungen ein fremdes Leben vor mir wie ein bunter Strauss an Anekdoten, Daten, Bildern und Weisheiten. Das Vertrauen, das mir da im Erzählen entgegengebracht wird, berührt mich. Dass eine bisher unbekannte Person mich an Lichtblicken und Schattenzeiten in ihrem Leben teilhaben lässt, schafft Begegnung zwischen uns, macht mich zu ihrer Weggefährtin auch über den Blick in den Lebensspiegel hinaus.
Beim Schreiben der Audioaufzeichnungen versuche ich, Momente der Stärke und die ureigene Art der Person zum Leuchten zu bringen und zugleich nah am Gesprochenen zu bleiben. Oft ist es dann für alle ein feierlicher Moment, wenn ich bei einem dritten Treffen der begleiteten Person ihren Lebensspiegel vortrage und sie wahrnimmt: „All das gehört auch zur Fülle meines Lebens. So bin ich der Mensch geworden, der ich heute bin, und es ist gut, dass ich da war.“
Ich staune immer wieder darüber, dass ein Leben in all seinen Facetten schon allein dadurch Würde erfährt, dass es vom Ende her betrachtet wird.
 
Daniela Messer