Medizin & Seele

Impressionen Der Apfelbaum

Lic. Theol.
Christiane Burrichter

Christiane Burrichter
Der November ist ganz allgemein ein Monat, der seit alters her zum Nachdenken über die Ver-gänglichkeit von Natur und Mensch einlädt. Nicht umsonst liegen Feiern für das Gedenken an verstorbene Menschen gerade in diesem Monat. Menschliche Enttäuschungen, zerbrochene Be-ziehungen… Sie holen uns gerade in dieser Jahreszeit besonders ein.
14. Dezember 2022

Draussen ist es noch nicht ganz hell. Während ich meine Gedanken für dieses Monatswort sammle, wechseln sich gerade leuchtende Herbsttage mit wolkenverhangenen Tagen ab. Nebelnässe liegt bereits in der Luft. Der November kündigt sich an. Bevor ich in meine Ferien aufgebrochen bin, habe ich dem «alten» Pflegezentrum noch ganz für mich allein einen letzten Besuch abstatten dürfen. Langsam bin ich über die einzelnen Stöcke mit ihren Räumen und Balkonen gegangen. Das Haus ist nun geräumt, das neue Pflegezentrum bezogen und im «Werden» mit seiner eigenen Geschichte. Hier, im «Alten», hat gerade der Wechsel vom «Sein» zum «Vergehen» stattgefunden. Viel Sein hängt für mich nach über 12 Jahren als Seelsorgerin in diesem nun verlassenen Haus in der Luft. Für wie viele Menschen ist dieses Gebäude ein letztes Daheim gewesen, wie viele Menschen haben dort ihren letzten Lebensabschnitt verbracht, sind dort gestorben. Wie viele Pflegende haben diese meist alten und kranken Menschen wie auch ihre Angehörigen und Freunde auf diesem so wichtigen, existenziellen und so persönlichen Weg mit Hingabe, Herzblut, Einfühlungsvermögen, Professionalität… begleitet? Wie viele Mitarbeiter:innen haben den Bewohner:innen beigestanden, ihre Persönlichkeit, Würde und individuelle Lebensqualität achtend und wahrend auf dem Weg aus diesem Leben heraus? Wie viel Personal insgesamt hat dem Alltag unserer Bewohner:innen Leben, Farbe, Abwechslung und Klang verliehen. Es wurde zugehört, getröstet, ermutigt, begleitet, gebetet, gesegnet, gefeiert, Rat

gegeben. Die Räume mögen gelehrt sein, doch hängt an diesem Nachmittag, da ich sie ein letztes Mal begehe, all’ dies in der Luft auf der Schwelle vom Sein zum Vergehen. Im Erdgeschoss begegnet mir der grosse, bunte hölzerne Apfelbaum (s.o.). Zum 25. Bestehen des alten Pflegezentrums wurde er von der damaligen Tagesklinik am Spital Limmattal gestaltet als Symbol für, ja, genau: «Werden – Sein – Vergehen»!

 

Der November ist ganz allgemein ein Monat, der seit alters her zum Nachdenken über die Vergänglichkeit von Natur und Mensch einlädt. Nicht umsonst liegen Feiern für das Gedenken an verstorbene Menschen gerade in diesem Monat. Menschliche Enttäuschungen, zerbrochene Beziehungen… Sie holen uns gerade in dieser Jahreszeit besonders ein. Nebelverhangene, lichtarme Tage halten uns eher zu Hause und werfen uns auf uns selbst zurück. Wo sind wir gerade in unserem Leben im Werden, im Aufbruch, wo stehen wir im Moment und was ist vergangen, tut noch weh, ist zwar gelöst, aber noch nicht ganz losgelassen, fällt noch so schwer…? Es sind nicht nur Menschen, die wir durch den Tod verloren haben. Eine Freundschaft, eine Liebe, ein Arbeitsplatz, Gesundheit, Pläne, die sich doch nicht verwirklichen lassen, Hoffnung, die zerschlagen wurde. Jede und Jeder kann an dieser Stelle Konkretes aus dem eigenen Leben ergänzen. Noch etwas ist uns allen gemeinsam in diesem Jahr vergangen: Unser so selbstverständlich gut aufgestelltes, freies, sicheres, friedliches Leben. Mitten in Europa lebend müssen wir erleben, wie über unsere Köpfe Entscheidungen getroffen werden, die wir direkt - demokratisch vielleicht gar nicht mittragen möchten. Aber wir werden gar nicht gefragt, sondern müssen ohnmächtig zuschauen. Ohnmächtig – wirklich? Bei Anselm Grün, einem spirituellen Meister, habe ich folgenden Gedanken zum Thema «Trauer und Vergänglichkeit» gefunden: «Entweder ich lasse meine Vorstellungen zerbrechen, dann werde ich durch die Trauer aufgebrochen zu neuen Lebensmöglichkeiten. Oder aber ich halte an meinen Vorstellungen zum Leben fest. Dann werde ich zerbrechen (…).»[1]

 

Das neue Pflegezentrum ist bezogen; ein neues Sein hat begonnen, neue Geschichten ereignen sich in neuen Räumen. Und auch für alles in unserem persönlichen Leben kündigt sich ein neues Sein an; es folgt, so ist der Lauf der Dinge, wenn wir es nur zulassen, auf jedes Vergehen ein neues Werden. In unserem eigenen Leben kann uns ein derartiges neues Aufbrechen leichter gelingen.

 

Nicht wenige Menschen sind in diesen Wochen verunsichert und besorgt, was unserer Welt widerfahren wird. Bleiben wir zuversichtlich. Es wird nicht mehr so sein wie zuvor. Blicken wir dankbar auf das Gewesene, halten Neues für möglich und stehen wir auf, um das Neue mitzugestalten!

 

Es ist November – brechen wir gemeinsam auf zu neuem Werden!

 

Herzlich,

Christiane Burrichter

Kath. Seelsorgerin, Spital Limmattal

Nachtrag

Zum Schluss eine gute Nachricht! Der Apfelbaum darf weiterleben und für sein Thema einstehen! Der Baum wird in den kommenden Wochen einen neuen Platz in einer katholischen Zürcher Pfarrei, die seit geraumer Zeit genau einen solchen Baum für ihre Kirche suchte, erhalten. Auf Anregung der Spitalseelsorgerin hatte sich das Spital bereiterklärt, den Baum dieser Pfarrei zu überlassen. Seinem angestammten Titel "Werden – Sein – Vergehen" wird er treu bleiben dürfen und zukünftig die Namen der Taufkinder, Erstkomunionkinder, Firmlinge und der verstorbenen Gemeindemitglieder tragen. Anlässlich eines Familiengottesdienste wird er seiner neuen Bestimmung zugeführt werden.

 

Das ökumenische Seelsorgeteam am Spital Limmttal schreibt abwechselnd so genannte "Monatsworte", die grundsätzlich alle Menschen, die in Spital und Pflegezentrum unterwegs sind, ansprechen sollen. Ziel ist es, dass jeder Mensch, ganz gleich welcher Weltanschauung, einen inspirierenden Gedanken für sich darin finden können soll. C.B.

[1] Anselm Grün/Helena Schröder, "Was mir geholfen hat" Halt finden in schwierigen Zeiten, Herder Verlag, 1. Aufl., 2022, S. 33.