Psychiatrie
Seit einigen Jahren stossen religiöse oder spirituelle Überzeugungen und Verhaltensweisen der Patientinnen und Patienten in psychotherapeutischen Behandlungen als Bewältigungsversuch in existentiellen Krisen auf ein wachsendes Interesse. Der Grund: Psychische Erkrankungen ergreifen die ganze Persönlichkeit und lösen oft Fragen nach der eigenen Identität oder dem Sinn des eigenen Daseins, nicht zuletzt auch spirituelle oder religiöse Fragen aus: Wie ist im medizinischen Paradigma ein Umgang mit Leiden und Scheitern möglich? Wie ist ein gutes Leben mit den nicht änderbaren Einschränkungen möglich? Wie lassen sich Sinnfindung und Hoffnung unterstützen? Welche Besonderheiten ergeben sich, wenn diese Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit psychischen Erschütterungen und psychiatrischen Erkrankungen stehen?
Die Seelsorge in der psychiatrischen Klinik versteht sich als ein Teil des interprofessionellen Engagements für Spiritual Care. Sie weiss zu unterscheiden zwischen toxischen Glaubensvorstellungen und stärkenden Ressourcen. Oft erweist es sich als Chance, dass der Seelsorger, die Seelsorgerin psychisch kranken Menschen einfach nur mit Interesse, Empathie und Aufmerksamkeit begegnet, ohne primäre Fokussierung auf die medizinische Diagnosestellung.
Es entsteht ein offener Raum, in dem zunächst alles sein darf, wie es ist und oft vergessene Ressourcen im eigenen Leben wieder entdeckt werden können.
Um welche Fragen geht es?
- von Schuldgefühlen entlasten
- Identität und Vertrauen stärken
- Hoffnungen fördern
- einen Deutungsrahmen anbieten
- das diesseitige Erleben, wo gewünscht, transparent machen für eine tiefere Wirklichkeit
- Handlungsspielräume erkennen
- Veränderungsprozesse begleiten
- gelebtes Leben, die eigene Biografie würdigen
Beizug der Seelsorge
Seelsorgende in den Kliniken können vom Behandlungsteam in die Begleitung von Patienten und Patientinnen hinzugezogen werden.
Konkrete Indikationen für den Beizug der Seelsorge sind:
- zunächst oft klassische geistliche Themen wie Trauer, Schuld und Vergebung
- das ungelöste Erleben von Schicksal, Ohnmacht oder fehlendem Lebenssinn, also die sogenannten Kontingenzerfahrungen
- Fragen der Identität in Biografiebrüchen, versehrtem Selbstbild oder beim Ablegen von Formen einer pathologisierenden Religiosität
- Patienten und Patientinnen, die gezielt nach Ritualen fragen und in Chorälen, Gebeten oder Geschichten eine Verbindung zu ihren persönlichen spirituellen Wurzeln suchen
- Teams, die nach Todesfällen, besonders nach Suiziden, Formen zur Verarbeitung suchen
Literaturtipp für Interessierte
"Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie": Die Patientengeschichten erzählen von den krankmachenden oder heilsamen Einflüssen des Glaubens im Lebensverlauf. Das Einführungskapitel stellt den aktuellen Wissensstand zur Bedeutung von Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie vor, das Abschlusskapitel zieht Schlussfolgerungen für die psychotherapeutische Praxis und Weiterbildung. Das praxisorientierte Buch möchte dazu beitragen, aufmerksamer mit der spirituellen Dimension in Beratung und Psychotherapie umzugehen.
Eckhard Frick, Isgard Ohls, Gabriele Stotz-Ingenlath, Michael Utsch (Hg.).2018: Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Vandenhoeck und Ruprecht